Sinn oder Zweck? Wie uns unsere innere Ausrichtung vor Krisen schützt - Antworten nach Viktor Frankl

Mag. Ursula Berghofer, Psychologin in Bad Vöslau, Baden

Worin finden wir eine gute Orientierung für unser Handeln und unsere Entscheidungen? Wonach können wir uns innerlich ausrichten, um aufrecht und gestärkt schwierige Situationen durchzutragen? Wie werden wir zu Menschen mit Rückgrat, unbeeindruckt davon, ob uns durch unser Handeln Applaus zuteil wird oder nicht? In diesem Artikel finden Sie wertvolle Impulse und Antworten auf diese Fragen.


Eine grundlegende Unterscheidung in unserer inneren Ausrichtung liegt darin, ob wir sinn- oder zweckorientiert handeln und leben. Stehen wir in der Sinnfährte und entscheiden uns unter den vielen Möglichkeiten für jene, die wir als die (objektiv) sinnvollste in einer spezifischen Situation erachten, gibt uns dies die Kraft, diese auch in schwierigen Situationen umzusetzen und durchzutragen. Ist unsere Ausrichtung hingegen zweckorientiert, setzen wir unsere Aktionen so, um dadurch bloß einen bestimmten Zweck zu erfüllen, wie zum Beispiel die Erlangung von Ansehen, Zustimmung, Einfluss, Macht, etc. Wir sind rückgebogen auf selbstbezogene Motivwünsche, die wir möglichst rasch erfüllt bekommen möchten.

Die Logotherapie bietet uns dazu das sog. Sinn-Zweck-Modell, welches die beiden Ausrichtungen der Sinn- bzw. Zweckorientierung und deren Vorteile und Gefahren anschaulich darstellt.

Orientierung am Sinn: Welche Handlung ist die sinnvollste - für mich und mein Umfeld?


Wenn wir uns fragen, welche Möglichkeit in einer bestimmten Situation wohl die sinnvollste ist, sind wir dabei nicht nur auf uns selbst, sondern in gleicher Weise auf alle Beteiligten ausgerichtet. Frankl nennt diese innere Haltung selbsttranszendent, d. h. über die eigene Person hinausgehend. Der Mensch gibt sich in Liebe an die Welt hin: an eine bestimmte Aufgabe oder an seine Mitmenschen. Erst in dieser Hingabe verwirklicht er sich selbst und findet quasi als Nebeneffekt Glück und Lebensfülle.

Die tiefe Sehnsucht, einen wertvollen Beitrag für die Welt beizusteuern, trägt jeder in sich. Denn jeder Mensch, schon der ganz Kleine, möchte für etwas oder jemanden gut sein. Wenn wir überzeugt sich, dass etwas Sinn hat, dann gibt uns diese Haltung die Kraft, Hindernisse, die sich in den Weg stellen, zu überwinden. Wir werden frustrationstolerant und leidensfähig, weil wir klar den Sinn vor Augen haben und wissen, wofür - für wen oder was - wir etwas tun.

 

Wenn wir nun so handeln, wie wir es für uns und unser Umfeld als sinnvoll erachten, werden wir innerlich auch frei von den Reaktionen und den Beurteilungen anderer. Denn wir wissen, dass es vor unserem persönlichen Gewissen als in und an sich gut und richtig ist. Wir stehen in einer lauteren Absicht und handeln selbstbestimmt und integer.

Abb.: Schechner, J. & Zürner, H. (2011), Krisen bewältigen: Viktor E. Frankls 10 Thesen in der Praxis, 3. Aufl., S. 93, Verlag: braumüller


Als Nebeneffekt können sich schließlich Erfolg, Glück, Reichtum, Anerkennung etc. einstellen - und oft tut es das auch - darüber freuen wir uns und wir dürfen es als Geschenk annehmen, aber wir sind nicht davon abhängig.

 

Auf diese Weise stehen wir mit beiden Beinen fest am Boden und im Leben und sind emotional stabil, auch wenn es in manchen Situationen nicht einfach ist, dem Sinnanruf zu folgen und inneren oder äußeren Widerständen standzuhalten. Wir werden zu einer Persönlichkeit mit einer klaren und starken Kontur, die den Sinn anstrebt, unabhängig davon, ob es zur Erfüllung von Annehmlichkeiten kommt oder nicht.

Beispiele:

  • Eine sinnvolle Hilfe für andere zeigt sich u. a. darin, dass wir einerseits auf unsere eigenen Grenzen achten (Burnoutprävention) und die andere Person nur darin unterstützen, was tatsächlich auch Sinn für sie macht und sie nicht in ihrer Selbstständigkeit, Entwicklung und Verantwortung behindert und blockiert.
  • Ich sage "Nein", weil dahinter ein "Ja" für die sinnvollste und beste der Möglichkeiten steht. Ich halte die Frustration und ggf. Ablehnung meines Gegenübers aus, weil ich weiß, weshalb und wofür ich so handle und es vor meinem Gewissen als richtig erachte.
  • Ich setze meinem Kind liebevoll eine sinnvolle Grenze im Bereich Medien, Süßigkeiten, etc. Ich halte seinen Frust aus anstatt nachzugeben, da ich weiß, dass es langfristig das Beste für die Entwicklung meines Kindes ist.

Sinn überfordert und unterfordert nie.

VIKTOR FRANKL

Orientierung am Zweck: Ausrichtung der Handlungen auf selbstbezogene Motivwünsche


In einer zweckorientierten Haltung drehen wir uns hingegen um uns selbst und möchten, dass unsere Wünsche und Bedürfnisse so rasch wie möglich befriedigt werden. Gerade in der heutigen Konsumgesellschaft, in der der Mensch alles, was er möchte, leicht und rasch erwerben kann, ist er dazu geneigt, Erfolg, Glück, Macht, Lust etc. direkt anzustreben. Mit allen Mitteln möchte er seine Ziele so schnell wie möglich durchsetzen. Er nimmt eine Abkürzung auf Kosten der Sinnorientierung. In dieser Haltung verliert er seine aufrechte, souveräne Haltung und kippt in eine Schräglage, die er nicht auf Dauer durchhalten kann. Werden sein angestrebtes Ziel und seine Erwartungen nicht erfüllt, kippt er von der Schräglage in die Bauchlage: Er ist enttäuscht, klagt andere an und versinkt in Selbstmitleid. Er gerät in eine Krise.

Abb.: Schechner, J. & Zürner, H. (2011), Krisen bewältigen: Viktor E. Frankls 10 Thesen

in der Praxis, 3. Aufl., S. 105, Verlag: braumüller

Der Sinn weist dir die Richtung klar,

leitet nur Zweck, droht Sturzgefahr.

SCHECHNER & ZÜRNER

Beispiele:

  • Ich helfe anderen ungefragt und im Übermaß, da ich für mich Anerkennung und das Gefühl, unersetzbar zu sein, brauche. Meine Hilfe ist dann übergriffig und nicht das Beste für die andere Person. Ich verhindere damit, dass sie lernt, Verantwortung für sich zu übernehmen, selbstständig zu werden und bei Bedarf konkret um Hilfe zu bitten.
  • Ich sage "Ja", obwohl ich tief in meinem Inneren "Nein" spüre, da ich unbedingt das Wohlwollen der Person haben und Konflikten aus dem Weg gehen möchte. Dies geht auf Kosten meiner Integrität und Authentizität.
  • Ich gebe jedem Wunsch meines Kindes nach, da ich Ruhe und Harmonie und seine Frustration nicht aushalten möchte. Das Kind lernt keine realistischen Grenzen kennen und kann keine Frustrationstoleranz bei Verzicht erlernen, was es später für sein Leben jedoch unbedingt braucht.

Die Frage nach der sinnvollsten Möglichkeit in einer Situation ist - wie wir sehen - eine Frage, die uns aufrichtet. Wir werden Menschen mit Rückgrat, innerlich frei und unbeeindruckt davon, ob uns durch unser Handeln Applaus zuteil wird oder nicht, ob es uns unmittelbar etwas bringt oder nicht. Wir tun es, weil es sinnvoll ist - unabhängig davon, was für uns dabei herauskommt.

Der Misserfolg wird mich nicht verwirren und der Erfolg wird mich nicht verführen.

VIKTOR FRANKL

So wünsche ich Ihnen und uns, dass wir - durch eine sinnorientierte, reife und liebevolle innere Ausrichtung gestärkt - an Kraft und Mut gewinnen zur bestmöglichen Erfüllung unserer Aufgaben und Beantwortung unserer Lebensfragen!

 

Herzlichst,

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