Sinnerfüllt leben - Das Menschenbild nach Viktor Frankl

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Die moderne Resilienzforschung geht der Frage nach, was den Menschen auch unter schwierigen Bedingungen psychisch stabil hält. Dabei wurde u. a.  erkannt, dass ein Mensch, der einen Sinn im Leben wahrnimmt, die Lebensfreude und -kraft gewinnt, um Krisen gestärkt zu meistern. Viktor Frankl, Arzt und Begründer der Logotherapie, erkannte die wichtige Bedeutung von Sinn für die seelische Gesundheit des Menschen schon viele Jahre zuvor und stellte ihn ins Zentrum seiner Therapieform.


Während sich seine Kollegen vorwiegend mit der Frage beschäftigten, warum ein Mensch eine psychische Störung entwickle, war es für ihn von besonderem Interesse, was den Menschen trotz Krisen und Schicksalsschlägen gesund hält. In diesem Zusammenhang machte er die Beobachtung, dass Menschen, die ein ähnliches, schweres Schicksal erlitten hatten, in ganz unterschiedlicher Weise darauf reagierten. Dadurch erkannte er, dass der Mensch - neben seiner Biologie und den sozialen Einflüssen - immer auch über ein gewisses Maß an Gestaltungspotenzial verfügt, um sich selbst und sein Leben in der ein oder anderen Weise bewusst und aktiv zu formen. In dieser Ansicht war Frankl zu seiner Zeit ein Pionier, da damals ein deterministisches - durch Anlage und Umwelteinflüsse bestimmtes - Menschenbild vorherrschte.

"Der Mensch wird nicht nur gemacht, sondern er macht etwas aus sich.

Er hat ein eigenes Gestaltungspotenzial und kann sich selbst in der ein oder anderen Weise formen."

Elisabeth Lukas

Frankl dachte insgesamt sehr groß vom Menschen und setzte sich intensiv mit der Frage auseinander, was genau denn den Menschen vom Tier unterscheide - was spezifisch menschlich sei und den Menschen als solchen kennzeichne. Und seine Antwort war: die Frage nach Sinn und Werten. Darauf aufbauend begründete er sein Menschenbild, welches drei Bereiche umfasst und im folgenden näher erläutert wird.

Das 3-dimensionale Menschenbild nach Viktor Frankl

 

1. Die körperliche Ebene

Der menschliche Körper ist der materielle Teil des Menschen (alle Körperbereiche sowie physiologischen Körperfunktionen und Prozesse). Diese körperliche Ebene teilen wir mit Tieren und Pflanzen und ist daher nicht spezifisch human.

 

2. Die psychische Ebene

Diese umfasst unsere Kognitionen und Emotionen, d. h. unsere "innere Erlebensseite" und den damit verbundenen Verhaltensweisen. Über diese verfügen auch Tiere bis zu einem gewissen Grad.

 

3. Die geistige Ebene

Die Frage nach Sinn und Werten ist ausschließlich dem Menschen zugänglich, denn weder Pflanzen noch Tiere stellen sich diese Frage. Den Bereich, durch welchen wir uns mit diesen Fragen auseinandersetzen können, nannte Frankl die "geistige Dimension". Diese sei die spezifisch humane, die den Menschen als solchen kennzeichnet.


Wie zeigen sich nun unsere geistigen Fähigkeiten im Alltag?

 

Die Frage nach Sinn stellen wir uns immer wieder in ganz alltäglichen Situationen: "Soll ich das Geld für einen teuren Urlaub ausgeben oder besser sparen?", "Soll ich diese oder jene Arbeitsstelle annehmen?", "Welche Schule ist für unser Kind die richtige?", uvm. Ebenso spielen auch Werte eine wichtige Rolle in unserem Alltag, z. B. Beziehungen, Arbeit, Erholung, gesunde Ernährung, etc.

 

Unser geistiges Potenzial, d. h. die Fähigkeit, Sinn und Werte zu verwirklichen, wird jedoch besonders gut in Situationen sichtbar, in denen unser psychisches Wollen nicht mit dem Sinnhaften in einer konkreten Situation übereinstimmt.

 

Ein Beispiel dazu: Stellen Sie sich vor, Sie haben schon längere Zeit keinen Sport mehr gemacht und spüren, dass Sie sich dadurch insgesamt nicht wohl fühlen und es Ihren gesundheitlichen Gesamtzustand beeinträchtigt. Sie liegen gemütlich auf der Couch und denken daran, dass Sie sich eigentlich wieder in die Sportschuhe schwingen sollten. Gleichzeitig fällt es Ihnen extrem schwer, sich aufzuraffen und aktiv zu werden.

Betrachten wir diese Situation nun vor dem Hintergrund von Frankls Menschenbild, so wird die Unlust, sich zu bewegen, auf der psychischen Ebene lokalisiert. Wir bleiben lieber auf der Couch liegen und wollen uns nicht anstrengen.

Auf der geistigen Ebene jedoch erkennen wir, dass körperliche Betätigung sinnvoll für uns ist, um langfristig fit und gesund zu bleiben.


Die Fähigkeit, die eigene Persönlichkeit mitzugestalten

 

Nun haben wir die freie Wahl: dem psychischen Drang nach momentaner Bequemlichkeit nachzugeben oder die sinnvolle Möglichkeit der Bewegung zu ergreifen und körperlich aktiv zu werden. Und hier liegt nach Frankl das geistige Potential des Menschen: kraft unserer geistigen Fähigkeit sind wir in der Lage, die sinnvolle Möglichkeit bzw. den Wert, der damit verbunden ist, bewusst zu wählen, uns in Freiheit dafür zu entscheiden und zu verwirklichen - auch wenn es momentan unangenehm für uns ist. Frankl nennt dies die "Trotzmacht des Geistes": dem psychischen Drang zu trotzen und trotz innerer oder äußerer Widerstände die sinnvolle Wahl umzusetzen und zu verwirklichen.

 

Zum Glück ist dieses "Abrücken von der körperlich-psychischen Ebene" nicht immer notwendig - das wäre sehr anstrengend! Und so ist der Mensch auch nicht gedacht. Aber in Situationen, in denen wir uns selbst oder anderen Schaden zufügen würden und die Verwirklichung von Sinn und Werten not-wendend ist - in diesen sind wir eingeladen, unsere geistigen Fähigkeiten zu mobilisieren. Frankl betonte die Freiheit des Menschen, sich entscheiden zu können, auf emotionaler Ebene zu reagieren oder auf geistiger Ebene zu agieren. Mit dieser Freiheit gehe gleichzeitig die Verantwortung des Menschen für seine Entscheidung und den damit verbundenen Auswirkungen auf sich selbst und anderen Beteiligten einher.

Sinn und Werte in einer Situation zu erkennen ist menschlich.

Und dem Sinn zu gehorchen - auch wenn das Psychische uns in eine andere Richtung drängt -

zeigt die Geistigkeit des Menschen.

Elisabeth Lukas

Sinn und Werte geben Orientierung und Halt

 

Wenn wir einen inneren Beschluss fassen, die sinnvollste Möglichkeit bzw. den Wert dahinter zu verwirklichen, lässt uns dies die Kraft zufließen, diesen auch bei inneren oder äußeren Widerständen umzusetzen und durchzuhalten. Wenn wir klar vor Augen haben, wofür wir etwas tun, überspringen wir so manche Hindernisse, bekommen einen langen Atem und können so manches Krisenhafte ertragen.

Abb.: Schechner, J. & Zürner, H. (2011), Krisen bewältigen: Viktor E. Frankls 10 Thesen in der Praxis, 3. Aufl., S. 158, Verlag: braumüller


Die Fähigkeit, ein Stück Welt mitzugestalten

Auge um Auge - und die Welt wird blind sein.

Mahatma Gandhi

Ein herausragendes Beispiel dafür war der indische Rechtsanwalt Mahatma Gandhi, der sich gegen die Unterdrückung und soziale Ungerechtigkeit seines Volkes einsetzte. Er orientierte sich am Wert der "Menschenwürde" und erreichte durch gewaltfreie Aktionen das Ende der britischen Kolonialherrschaft über Indien. Sein Lebenswerk bestätigt das Menschenbild Frankls, wozu der Mensch kraft seines geistigen Potenzials und der Ausrichtung auf Sinn und Werte fähig ist, sich selbst und die Welt auf positive Weise mitzugestalten.

 

Aber nicht nur Gandhi oder andere berühmte Persönlichkeiten, sondern auch jeder von uns ist aufgrund seiner geistigen Fähigkeit in der Lage, einen Wert zum Wohl unserer Mitmenschen zu verwirklichen, z. B. in der Familie, in der Partnerschaft, am Arbeitsplatz, etc. Gerade in herausfordernden Situationen können wir uns selbst immer wieder fragen: Welchen Wert möchte ich verwirklichen? Welche ist die sinnvollste Möglichkeit, die mir gerade zur Verfügung steht, für mich und alle Beteiligten (Sinndefinition der Logotherapie)?


Wir alle haben in unserer Lebensgeschichte schon die ein oder andere Art von Unrecht erfahren. Wenn wir uns durch jemanden verletzt fühlen, neigen wir auf psychischer Ebene rasch dazu, durch Worte oder Taten zurückzuschlagen. Die Beleidigung oder Verletzung, die wir erhalten haben, geben wir meist weiter: entweder an die Person selbst oder an einen Unschuldigen, der uns gerade über den Weg läuft. Dies führt oft zur Eskalation und bringt eine Leidspirale in Gang.

 

Wenn wir uns hingegen danach fragen, was in einer solchen Situation sinn- und wertvoll ist und uns danach ausrichten, können wir - wenn wir bereit dazu sind - eine erhaltene negative emotionale Reaktion "aushalten" ohne in derselben Weise zu reagieren und so die Leidkette stoppen. Wir können ein "Minus", das wir erhalten haben, in ein "Plus" verwandeln.

Abb.: Schechner, J. & Zürner, H. (2011), Krisen bewältigen: Viktor E. Frankls 10 Thesen in der Praxis, 3. Aufl., S. 209, Verlag: braumüller


Dieses Potenzial besitzt jeder Mensch aufgrund seiner geistigen Fähigkeiten. Anstatt "Getriebene" zu sein, können wir bewusst und gezielt Handlungen setzen, die wir als sinnvoll erachten und die mit unseren Werten übereinstimmen.

Dies ist das besondere menschliche Vermögen, das Frankl im Menschen erkannte und in seiner Lehre weitergab.

Das Schiff fährt so, wie man die Segel setzt und nicht so, wie der Wind bläst.

Unbekannt

So wünsche ich Ihnen und uns, dass wir das menschliche Potenzial, das uns zugedacht ist, immer mehr und tiefer ausschöpfen und bewusste und aktive Mitgestalter unserer Selbst und unserer Umgebung werden!

 

Herzlichst,

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